Auf meiner ersten größeren Bikepacking-Tour stieß nicht nur Übermut auf Akzeptanz, sondern auch ich an meine Grenzen. Neben neuen alten Emotionen darf ich einen für mich unbekannten Teil Deutschlands und zum ersten Mal Frankreich in 8 Tagen auf dem Fahrrad neu entdecken. Was alleine Reisen mit mir gemacht hat, wieso ich für einen Teil der Tour in die Bahn gestiegen bin und was die diesjährige „Tour de France“ für eine Rolle dabei spielte, erzähle ich dir jetzt.
Vor der Tour
Nachdem ich nicht nur einmal eine größere Tour abgebrochen habe, nahm ich mir diesmal vor, planlos in Richtung Süden zu fahren. Kein Ziel, keine Etappen, keine Entfernungen. Nur solange fahren, wie mich meine Beine und Laune treiben.
„Wie wäre es, wenn ich bis in die französischen Vogesen fahre, durch die eine Woche später die 20. Etappe der Tour de France führt? Ich wäre live dabei, wie die Radprofis um die Trikots fahren!“ - Damit war nicht nur der Plan von einem planlosen Fahren pulverisiert sondern auch mein competitiver Ehrgeiz entfesselt. Das Höher-Schneller-Weiter-Syndrom, wie ich es nenne, setzte wieder ein und trieb mich an.
Alles begann mit der neuen Netflixserie „Tour de France: Im Hauptfeld“, die Anfang Juni startete und dem Zuschauer einen kleinen Einblick in den Rennradport geben und das Gefühl „Der Tour“, wie sie die Profis nennen, näher bringen soll. Es kochten Emotionen aus meiner zurückliegenden Laufbahn als Leistungssportler im Rudersport hoch und das Rennradfieber hat mich gepackt. Seitdem gab es kein Zurück für den Wunsch selbst wieder sportlich aktiver zu werden, eine Tour zu planen und den Radsport für mich zu entdecken.
Step by Step
Meine Augen blicken aus einem trüben Fenster und folgen mit großer Mühe blitzartig von links nach rechts die vorbei rauschende Umgebung. Um mich herum sitzen viele Menschen. Ich sitze in einer Regionalbahn. Mich erfüllen gemischte Gefühle. Zum Einen Stolz, auf das, was hinter mir lag und zum Anderen ein leicht gekränktes Ego. Zurück zum Anfang.
Nachdem vieles wieder ausgepackt werden musste, da ich meinte, mehr zu brauchen als meine ORTLIEB-Taschen fassen können, begann die Tour sehr früh am Morgen in meinem Wohnort Lübeck. Entlang am Elbe-Lübeck-Kanal, über Ratzeburg, Mölln und weiter auf den losen Versorgungswegen des Elbe-Seitenkanals, vorbei an Lüneburg und Uelzen, entschied ich mich im Vorfeld für eine Strecke entlang großer Kanäle. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht erahnen, wie sehr ich mir doch eine neue Umgebung und neuen Untergrund wünschen würde.
Nach 80km wirkte die spielerisch leicht geplante Strecke am Schreibtisch fast schon überheblich im Kontrast zu dem, was in diesem Moment in mir vor ging. Die Akkus waren leer, die Angst groß das Tagesziel nicht zu schaffen und die erste Euphorie war am permanenten Gegenwind zerschellt. Ich machte viele lange Pausen, trank zuckerhaltige Getränke, aß Riegel und hoffte ständig auf den wiederkehrenden Energieschub. Es war eine Qual für den Körper und ein Lebenszeichen meines Geistes. Eine ungewohnte aber alt bekannte psychische und pysische Umgebung in der ich mich seit langem wieder bewegte und schnell meine Grenzen überschritt.
Nach 140km auf der Uhr, einem langen Kampf gegen mich selbst und mit weichen Knien erreichte ich spät Abends das erste Ziel. Der Campingplatz Bad Bodenteich lag versteckt am Rande eines Waldes und war für die erste Nacht ein schöner Platz zum Bleiben. So ging es frisch erholt am nächsten Morgen wieder zurück auf den Versorgungsweg des künstlich angelegten Kanals. Und wieder nur Schotter, Brücken und viel Gegenwind.
Am zweiten Tag meiner Tour ging ich durch die schon vorhandene Erschöpfung viel früher an meine Reserven. Während ich unbewusst Strategien entwickelte, um die Motivation und Beine bei Laune zu halten, wurde mir wieder bewusst, wie viel Einfluss die Psyche auf den Körper hat. So entstand beispielsweise das "Brückenspiel". Es wurden Brücken gezählt, die zahlreich auf der Strecke den Kanal kreuzten und unter denen man hindurchfuhr. Noch drei Brücken und dann gibt es einen Riegel, ein Getränk oder eine andere Art der Belohnung. Und so wurden aus drei, schnell fünf, sechs, oder sieben Brücken. Die Kilometer schmolzen dahin.
Ich war somit den gesamten Tag damit beschäftigt, mich selbst auszutricksen und im "Überlebensmodus" zu bleiben. Ich merkte wie wenig Energie und Platz ich im Kopf hatte, mich mit anderen Dingen wie Bildern, Videos, Nachrichten oder Sonstigem auseinander zu setzen. Es fühlte sich an, wie eine kleine eigene Welt, in der ich mich befand und stur meinen großen Zielen folgte, die ich erreichen MUSSTE.
Meine erste Erkenntnis auf dieser Tour lag darin, sich bei seinen persönlichen Zielen, in allen Bereichen des Lebens, nicht das gewünschte Endergebnis vor Augen zu führen, sondern den Fokus auf tägliche kleine Ziele (Etappen) zu legen. Wenn ich mir täglich ein kleines Stück vor die Brust nehme, werde ich nicht vom Ziel in seiner Gesamtheit erschlagen. Kein Rennradfahrer der Welt fährt 3400km am Stück durch ganz Frankreich. Aufgeteilt in 21 Etappen ist diese Strecke jedoch realistisch und greifbar. So führen viele kleine Ziele zu einem großen Ergebnis. Step by Step.
Mit einer für mich neuen Erkenntnis im Gepäck, portionierte ich mir die Strecke von 130km in kleine Stücke, freute mich darüber in Braunschweig den Schotterweg der Versorgungswege zu verlassen und erreichte spät am Abend den lang ersehnten Campingplatz in der Nähe von Seesen. Viel war an den Tagen nicht dran. Ich war erstaunt, wie gut ich trotz starkem Muskelkater vom Vortag die Strecke weggesteckt und das Tagesziel erreicht habe. Ich war gespannt, was noch möglich ist, wenn der Geist den Körper überlistet.
Am nächsten Morgen fuhr ich weiter über Göttingen in Richtung Kassel. Bei einer Pause in einem kleinen ruhigen Park in Göttingen, entschied ich mich spontan für einen Campingplatz in einer kleinen Stadt namens Hannoversch Münden (auch Hann. Münden genannt). Nach weiteren 80km wurde ich mit einem unglaublichen Ausblick belohnt. Die Stadt war für mich der absolute "Geheimtipp" meiner Tour. Von oben auf die Karte blickend, wirkte der Ort eher unscheinbar und überraschte mich durch seine wunderschöne Lage und Altstadt. Es erstaunte mich, wie kleine Entscheidungen solch große Auswirkungen haben können.
375. Das sind die Kilometer, die hinter mir lagen, als ich nach drei Tagen im Zug darüber nachgedacht habe, warum mein Ego mit dieser Situation nicht zu 100% einverstanden war. Nach einer erholsamen Nacht in Hann. Münden, führten mich 25km Radweg nach Kassel, wo ich zunächst nur eine kleine Pause einlegen wollte. Ich merkte, dass mir am vierten Tag meiner Reise der Spaß fehlte. Alles fühlte sich langsam an und die Motivation, erneut den ganzen Tag meinen Kopf zu überlisten, weiter und weiter zu fahren, blieb gänzlich aus. Für wen mach ich das? Die Erkenntnis kam schnell: Für mein EGO.
Okay, Neustart. Ein erholsamer Urlaub war mir jetzt wichtiger, als am Ende sagen zu können, den gesamten Weg in die Vogesen mit dem Rad gefahren zu sein. Neuer Plan. Mit dem Zug über Frankfurt am Main und Karlsruhe, geht es nach Offenburg. Viel Strecke machen, damit an den letzten Tagen entsapnntere Etappen vor mir liegen. Spät am Abend erreichte ich ein kleines Hotel in Offenburg. Sechs Stunden Zugfahrt reichten, damit auch die kleinste Zelle in mir verstanden hat, dass ich stolz auf das Erreichte sein kann und ich nichts von all dem machen MUSS. Es bringt mir nichts, Strecke zu machen und alles um mich herum im "Überlebensmodus" auszublenden. So bleibt mehr Zeit jeden Moment zu genießen und auch das eine oder andere Foto zu machen.
Geplante Spontanität
Mit Tageszielen von 40km bis 50km wurde meine Reise spürbar entschleunigt und meine Energie kehrte zurück. Mein Körper gewöhnte sich an die vielen Stunden im Sattel und wusste damit umzugehen. Die Vorfreude auf den Grenzübertritt nach Frankreich und auf die Vogesen wurde größer. Ich konnte spüren, wie weit ich von Zuhause weg war. Alles sah anders aus. Die Hügel bildeten einen starken Kontrast zum flachen Norden und doch befand ich mich noch in Deutschland. Schon verrückt wie viel es im eigenen Land zu entdecken gibt.
Auf dem Weg von Offenburg, über Herbolzheim und Breisach am Rhein bis nach Frankreich, standen zwei weitere Nächte auf Campingplätzen an, die ein richtiges Bikepacking-Feeling in mir auslösten. Bikepacking steht für mich für Freiheit und spontanes Reisen. Doch mit Spontanität tat ich mich schwer. Ich bin ein Sicherheit liebender Mensch und habe es nicht in einem Fall geschafft, ohne Anruf auf einem Campingplatz aufzuschlagen. Im Laufe des Tages gab mir ein Telefonat im Vorfeld mit der Frage, ob denn noch Platz für mich sei, die nötige Sicherheit und Gelassenheit. Ich kam nicht drum herum und wählte für mich einen Mittelweg zur geplanten Spontanität.
Für mich die Erkenntnis Nummer zwei auf meiner Reise. Ein kleiner Teil dieser Spontanität liegt außerhalb meiner Komfortzone. Aber es lohnt sich, aus dieser auszubrechen. Denn oft habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass die schönsten Dinge dann entstehen, wenn sie vorher nicht geplant wurden. Ich habe mir vorgenommen, die Dinge häufiger auf mich zukommen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass ich für alles eine Lösung finde, sollte Mal etwas nicht funktionieren.
"Glück fängt dort an, wo gute Vorbereitung aufhört."
Die Tour der Tour
Mein Blick wandert mehrfach von links nach rechts als ich die Rheinbrücke Breisach und damit auch die deutsch-französische Grenze in der gleichnamigen Stadt Breisach am Rhein langsam überquerte. In beide Richtungen erstreckten sich Täler an deren Ende sich ein Gebirge auf tat. Zu meiner linken Hand befand sich der Schwarzwald und zur rechten Hand erstreckten sich die französischen Vogesen. Es überkam mich ein erfüllendes Gefühl, als ich das Ziel schon sehen konnte, obwohl noch zwei Tage zwischen mir und der Ankunft in Munster (Vogesen) lagen.
Eine lebensältere freundliche Dame kommt in das Zimmer, in dem ich saß und erklärte mir, wie ich die nächsten Tage mein Bein zu behandeln und verbinden habe. Ein alter Insektenstich, von vor zwei Tagen, zwang mich dazu, meine erste französische Unterkunft in Neuf-Brisach am frühen Morgen hinter mich zu lassen und einen Hausarzt auf deutscher Seite aufzusuchen. Ich entschied mich ein kurzes Stück meiner Route zurück zu fahren, um meine Auslandskrankenversicherung nicht unnötigerweise in Anspruch zu nehmen. Also ging es wieder über die Rheinbrücke Breisach zurück nach Deutschland zum nächsten Arzt.
Als die Entzündung versorgt und ich beruhigt war, ging es für mich endlich nach Colmar, eine kleine Stadt im Elsass in Nordostfrankreich. Meine letzte Station auf meiner großen Reise. Dort kam ich in einer sehr einfachen und günstigen Unterkunft direkt am Flughafen unter. Ich wollte es minimalistisch halten, da ich nur zum Schlafen dort bin und Komfort nicht wichtig war. Der Preis war unschlagbar. Die Unterkunft in ihrer Eigenartigkeit auch. Die Zimmer waren sehr klein, runtergekommen, verschmutzt und überall Fliegen. Auch in diesem Bereich musste ich wohl auch mal raus aus der Komfortzone.
Nach 7 Tagen und rund 500km war es soweit. Ich war nur einen Tagesausflug davon entfernt, eine kleine Idee, entsprungen während eines Spaziergangs, Wirklichkeit werden zu lassen. Nach ca. 20km durch ein Tal in die Vogesen, erreichte ich die kleine Stadt Munster, durch die mehrere Kilometer der 20. Etappe der Tour de France 2023 führte. Ich suchte mir ein schattiges Plätzchen, lies mich vom "Tour-Karneval" versorgen und griff ein T-Shirt ab. Dieser Konvoi bestand aus vielen bunten Autos der Sponsoren, die eine Stunde vor dem Rennen die Strecke abfuhren, und die Zuschauer am Rand mit Werbegeschenken förmlich abgeworfen haben.
Jeder Meter am Rand der Strecke war voll mit Radport-Fans und die Stimmung gleichte der einer riesigen Party. Jeder hatte gute Laune, man bekam viele Rennräder zu Geischt, unterhielt sich mit Gleichgesinnten und das lange Warten war nur halb so schlimm. Nach 3 Stunden war es dann soweit. Zuerst rauschte die "la tête de la course" (die Spitzengruppe) an uns vorbei, wenige Minuten dahinter kam das "Peloton" (das geschlossene Hauptfeld) und zum Schluss, in kleineren Gruppen, der Rest der noch übrig gebliebenen Rennradprofis. Nach nur 15 Minuten war alles vorbei. Bei einer Geschwindigkeit von bis zu 55km/h bleibt einem kaum Zeit zum Schauen. Doch es hat sich gelohnt!
Es war einfach nur irre. Überall Menschen mit der gleichen Vorliebe zum Sport, die vielen Helikopter in der Luft und Teamwagen auf der Straße, all die Radprofis und das super Wetter! Der Weg zurück in die Unterkunft erfüllte mich mit purer Freude, als ich an all die letzten Tage gedacht habe, die ihr Ende in diesem einzigartigen Tag gefunden haben.
Fazit
Der Rücken war fest wie Beton, die Handballen rot und die beine schwer. Vieles musste ich auf mich zukommen lassen und vorbereitet habe ich mich nicht. Und doch sind es genau diese Dinge, die in meinem Gedächntis präsent blieben. Es sind die Erlebnisse, über die ich jetzt lachen kann und die mir gezeigt haben, was alles überhaupt möglich ist. Oft habe ich mich dabei erwischt, mir Grenzen zu setzen und zu viel nachzudenken, weil ich Angst davor hatte, dass es nicht gut oder unmöglich sei. Wie der Extremsportler Jonas Deichmann sagte: "Das Limit bin nur ich!". Das Zitat beschreibt die letzten 8 Tage, in denen ich für mich selbst, Tag für Tag, eigene Grenzen überschritten habe und mich selbst neu kennenlernen durfte.
Es ist nicht der Schmerz in meinem Körper, es ist nicht der allgegenwärtige Schmutz oder die unbequeme Isomatte. Es ist sind meine Gedanken, die mir sagen, dass es so nicht geht. Aber genau diese Gedanken und geistigen Grenzen können verschoben werden. Und dann geht es doch. Dann geht es einfach immer weiter. Step by Step.
Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit und dein Interesse! =)
Hier geht es zu den Tourdaten und den Streckenverlauf.
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